Verbreitung
Aus allergologischer Sicht ist Kuhmilch das Nahrungsmittel, das bei Säuglingen und Kleinkindern am häufigsten eine Allergie auslöst. Experten gehen davon aus, dass in den industrialisierten Ländern mehr als zwei Prozent der Kinder von einer Kuhmilchallergie betroffen sind. Im Erwachsenenalter ist die Allergie seltener.
Von der Milchallergie muss eine Laktoseintoleranz, eine Milchzuckerunverträglichkeit, abgegrenzt werden. Bei der Laktoseintoleranz, einer nicht-allergischen Erkrankung, fehlt das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet.
In einer Selbsteinschätzung geben 2,3 Prozent aller Europäer an, allergisch gegen Milch zu reagieren. Wenn man jedoch die Zahlen betrachtet, die sich aus 42 Studien ergeben, bei denen die Patienten ein ärztliches Diagnoseverfahren durchlaufen haben, sind deutlich weniger Menschen betroffen. Durch Provokationstest konnte nur bei 0, 6 Prozent der Europäer nachgewiesen werden, dass sie tatsächlich unter einer Kuhmilchallergie leiden.
Typischerweise macht sich eine Kuhmilchallergie im Säuglingsalter nach den ersten Milchmahlzeiten bemerkbar. Die Symptome können sofort aber auch bis zu zwei Tage verzögert auftreten. Sie zeigen sich jedoch immer im Zusammenhang mit der Milchaufnahme. Wird Milch manchmal vertragen und manchmal nicht, ist eine Allergie als Ursache für die Beschwerden eher unwahrscheinlich.
Auslöser
Kuhmilch enthält zahlreiche Eiweiße (Proteine), die Allergien auslösen können. Am häufigsten für eine allergische Reaktion verantwortlich sind: Kaseine und die Molke-Eiweiße β-Lactoglobulin und α-Lactalbumin. Meistens reagieren die Betroffenen auf mehrere der Eiweiße allergisch.
Kasein ist hitzestabil und wird durch Kochen nicht zerstört. Die Eiweiße β-Lactoglobulin und α-Lactalbumin sind dagegen hitzeempfindlich. Bei Patienten, die nur auf diese hitzeempfindlichen Eiweiße reagieren, besteht die Chance, dass Produkte mit gekochter oder gebackener Milch vertragen werden.
Übrigens reagieren viele Betroffene auch auf die Milch von Schafen oder Ziegen allergisch. Der Grund: Die Eiweiße der anderen Tiermilcharten ähneln denen der Kuhmilch und werden vom Immunsystem ebenfalls als gefährlich eingestuft.
In seltenen Fällen ist auch Muttermilch unverträglich. Die gestillten Säuglinge zeigen allergische Reaktionen auf Eiweiße (oft Kuhmilcheiweiße), die die Mutter zu sich nimmt. Die Kinder haben blutige/schleimige Stühle, wirken aber ansonsten gesund. Die Symptome verschwinden, wenn das Allergen festgestellt und vom Speiseplan der Mutter gestrichen wird.
Beschwerden
Die Beschwerden machen sich binnen weniger Minuten teilweise aber auch erst bis zu 48 Stunden nach der Milchaufnahme bemerkbar. Meistens ist die Haut, oft auch der Magen-Darm Trakt betroffen. An der Haut zeigen sich Rötung, Quaddeln, Juckreiz. Bei manchen Patienten entstehen auch Schwellungen im Gesicht. Bei der zeitverzögerten Reaktion kann eine Neurodermitis ausgelöst oder verschlechtert werden. Die Magen-Darm Beschwerden äußern sich durch Durchfall oder Verstopfung, Übelkeit und Erbrechen. Bei Säuglingen kann es zur Wachstumsverzögerung kommen.
Ähnlich wie bei anderen Nahrungsmittelallergien können auch die Atemwege betroffen sein, es entstehen allergischer Schnupfen oder asthmatische Beschwerden. In seltenen Fällen kann es zum anaphylaktischen Schock mit Atemnot und Kreislaufstillstand kommen.
Im Kindesalter
Auch wenn die Kuhmilchallergie zu den häufigsten Nahrungsmittelallergenen im Kindesalter zählt – die Prognose ist gut. Bei vielen Betroffenen klingt die Allergie bis zum dritten Lebensjahr ab. Bis zum Schulalter sind etwa 80 Prozent der Kinder beschwerdefrei.
Damit die Kinder nicht unnötig lange auf Milch verzichten müssen, kann der Allergologe bzw. die Allergologin 6 bis 18 Monate nach der Diagnose erneut testen, ob die Allergie noch besteht.
Diagnoseverfahren
Ob eine Milchallergie vorliegt, klärt der Arzt oder die Ärztin zunächst in einem Gespräch über die Beschwerden und Ernährungsgewohnheiten. Der Verdacht auf eine Allergie wird – je nach Alter und Symptomen – mit einem Haut– und/oder Bluttest weiter abgesichert. Diese Tests zeigen eine Allergiebereitschaft für einen bestimmten Stoff an, sie können jedoch keine Allergie beweisen. Deshalb wird im Zweifelsfall ein weiteres Diagnoseverfahren herangezogen: Der Provokationstest. Dafür ernähren sich die Betroffenen einige Zeit allergenfrei. Im Anschluss werden ihnen unter ärztlicher Kontrolle geringe Mengen Milchprotein verabreicht. So kann überprüft werden, ob die Milch tatsächlich allergieauslösend ist.
Von der Milchallergie muss eine Laktoseintoleranz, eine Milchzuckerunverträglichkeit, abgegrenzt werden. Bei dieser nicht-allergischen Erkrankung fehlt das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet. Blähungen und Durchfall können die Folge sein – Beschwerden, die sich durch laktosefreie Ernährung bessern. Menschen mit einer Milchallergie profitieren allerdings nicht von laktosefreien Produkten, da die allergieauslösenden Milchproteine darin noch enthalten sind.
Eine schwierige Diagnose
Die Diagnose ist nicht ganz einfach. Unter anderem, weil sich das Immunsystem auf unterschiedliche Weise gegen bestimmte Eiweiße (Proteine) in der Kuhmilch wehrt. In zwei von drei Fällen reagiert der Körper nach dem so genannten Allergie-Typ I, bei dem ein bestimmter Antikörper, das Immunglobulin E, eine wichtige Rolle spielt. Die dadurch ausgelösten Beschwerden treten dann meist bereits 1-2 Stunden nach Aufnahme der Kuhmilch auf. IgE-vermittelte Allergien lassen sich im Blut oder mittels Hauttest nachweisen.
Bei dem restlichen Drittel ist die körperliche Abwehr komplexer. Die Immunantwort wird über die Allergie Typen II-IV ausgelöst, wobei nicht immer alle Reaktionswege beteiligt sind. Beschwerden konzentrieren sich häufig auf den Magen-Darm-Bereich (z.B. Erbrechen, Blähungen, Durchfall, Krämpfe). Allergische Hautauschläge sind seltener. Das macht es oft schwierig die Allergie zu diagnostizieren. Meist hilft nur Milchprodukte für 2-6 Wochen wegzulassen. Ist das Kind während des Milchweglassens (Auslassversuch) beschwerdefrei, wird Milch in ansteigender Dosis wieder angeboten, beispielsweise beginnend mit einem Tropfen auf die Unterlippe unter ärztlicher Aufsicht (Sackesen et al. 2019).
Nicht alles ist tabu
Besteht eine Kuhmilch-Allergie, müssen die guten Nährstoffe aus der Milch wie Kalzium, Proteinen, Vitaminen und Jod über andere Nahrungsmittel zugeführt werden. Außerdem dürfen bei den meisten Kindern trotzdem bestimmte Kuhmilchprodukte auf den Speiseplan.
Hohe Temperaturen können die Proteine in der Kuhmilch so verändern, dass Immunglobulin E nicht mehr darauf reagiert. Drei von vier Kinder mit IgE-vermittelter Allergie vertragen Milchprodukte, die für 30 Minuten oder länger bei mindestens 180°verarbeitet wurden. Stephanie Leonard vom Rady Kinderkrankenhaus im kalifornischen San Diego wertete die wichtigsten Studien zu diesem Thema aus. Sie kam zu dem Schluss, dass es sinnvoll sei Kleinkindern mit Kuhmilchallergie gebackene Milchprodukte anzubieten. Aber nicht nur, weil sie darauf nicht allergisch reagieren, sondern auch, weil das allergische Reaktionen im Lauf der Zeit mindert: „Der regelmäßige Verzehr scheint die Toleranzentwicklung für nicht erhitzte Milchprodukte zu beschleunigen“, so die Allergologin (Leonard 2016).
Wie die Desensibilisierung mit solchen Produkten praktisch aussehen kann, beschreibt die Britische Gesellschaft für Allergie und Klinische Immunologie (BSACI) mit einer vierstufigen „Milchleiter“ (Luyt et al. 2014). Schritt für Schritt kommen die allergischen Kinder mit immer mehr Kuhmilcheiweiß in Kontakt:
- Stufe 1: Kekse, die weniger als 1 Gramm Milcheiweiß enthalten.
- Stufe 2: Gebackene oder erhitzte Kuhmilchprodukte wie Kuchen, Waffeln oder Pfannkuchen, sowie Butter oder Margarine.
- Stufe 3: Produkte, die gekochten Käse oder erhitzte Milch enthalten, z.B. Käsesauce, Reispudding, Pizza.
- Stufe 4: Nicht verarbeiteter Käse, nicht joghurthaltige Desserts wie Eiscreme oder Schokoladenmousse, ultrahocherhitzte Milch.
Dieses Vorgehen empfiehlt die BSACI für Kinder, bei denen eine IgE-vermittelte Allergie gegen Kuhmilchproteine besteht und die in den letzten sechs Monaten beschwerdefrei waren. Bei jeder Neueinführung eines Produktes sollte die Menge langsam erhöht werden. Zum Beispiel steigert man die „Keksdosis“ über fünf Wochen von einem Kekskrümel auf einen ganzen Keks.
Therapie
Eine Milchallergie wird am effektivsten gelindert, indem Milch und Milchprodukte wie beispielsweise Butter, Käse, Sahne, Joghurt, Quark vermieden werden. Oft finden sich Milchbestandteile auch als Zusatz in industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln wie Wurst oder Fertiggerichten. Nach europäischem Lebensmittelrecht müssen diese Zusätze allerdings hervorgehoben gekennzeichnet werden.
Bei betroffenen Säuglingen und Kindern kann auf Kuhmilch nicht ersatzlos verzichtet werden, da Milch in diesem Alter die wichtigste Quelle für Kalzium ist und hochwertiges Eiweiß und B-Vitamine liefert. Wird eine Milchallergie diagnostiziert, sollte daher eine Ernährungsberatung folgen. Bei Säuglingen wird auf eine Spezialnahrung ausgewichen, auf eine sogenannte extensiv hydrolysierte Formula, bei der das Eiweiß der Milch so stark aufgespalten ist, dass es nicht mehr allergen wirkt. Alternativ kommt eine sogenannte Aminosäure-Formula in Frage, die keine Kuhmilch enthält und als Eiweißquelle nur einzelne Aminosäuren beinhaltet. Nach dem ersten Lebensjahr kann dann Sojamilch gefüttert werden, sofern keine Sojaallergie vorliegt. Bei Kindern unter einem Jahr sollte man darauf verzichten, da keine klaren Erkenntnisse darüber vorliegen, ob Soja das menschliche Hormonsystem beeinflusst. Hafer,- Mandel, und Reismilch eignen sich nicht als Kuhmilchersatz. Sie kommen erst in Betracht, wenn die Kinder alt genug sind, um lebenswichtige Nährstoffe über Fleisch, Getreide, Obst und Gemüse aufzunehmen.
Besteht eine schwere Kuhmilchallergie, bei der bereits geringe Mengen Milcheiweiß einen anaphylaktischen Schock auslösen, müssen für den Notfall Medikamente bereitstehen. Ein solches Notfall-Set enthält einen Adrenalinautoinjektor, ein Kortikosteroid (flüssig oder in Tablettenform) und ein Antihistaminikum (flüssig oder in Tablettenform).
Prof. Dr. med. Dr. h.c. T. Zuberbier
Letzte Änderung: Oktober 2019 durch KG
Quellen
- Flom JD, Sicherer SH. Epidemiology of Cow’s Milk Allergy. 2019;11(5). pii: E1051.
- Sakesen C et al. Current Trends in Tolerance Induction in Cow’s Milk Allergy: From Passive to Proactive Strategies. Front Pediatr. 2019;7:372.
- Luyt D et al. BSACI guideline for the diagnosis and management of cow’s milk allergy. Clin Exp Allergy. 2014;44(5):642-72.
- Hufnagl K et al. Retinoic acid prevents immunogenicity of milk lipocalin Bos d 5 through binding to its immunodominant T-cell epitope. Sci Rep. 2018;8(1):1589.
- Feehley T et al. Healthy infants harbor intestinal bacteria that protect against food allergy. Nat Med. 2019;25(3):448-453. Link zur englischen Originalstudie
Link zur deutschen Studienzusammenfassung
- Fox A et al. The potential for pre-, pro- and synbiotics in the management of infants at risk of cow’s milk allergy or with cow’s milk allergy: An exploration of the rationale, available evidence and remaining questions. World Allergy Organ J. 2019;12(5):100034. Link zur englischen Originalstudie